Reformierte Kirche Bühler

Mittwoch, 04.03.2020

„Kraft durch Freude“

Als ich 1978 meine Schulkarriere begann, hatten meine Lehrerinnen und Lehrer nur ein wirklich wichtiges Bildungsziel: Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus (1). Dem war alles andere untergeordnet. Natürlich habe ich im Laufe der Jahre auch Fremdsprachen gelernt und Integrale geknackt. Aber dieses eine Ziel stand über allem. Ich wurde von den Kindern der Täter unterrichtet. Sie arbeiteten an uns ihr familiäres Trauma ab.

Als ich 1991 mein Abitur abgelegt habe, war meinem Jahrgang dieses „Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!“ in Fleisch und Blut übergegangen. Wir standen da als Europäer und wollten eine offene Gesellschaft. Ich habe mir nicht im Traum vorstellen können, dass ich zu meinen Lebzeiten noch damit rechnen müsste, dass der Faschismus wieder salonfähig wird. Was habe ich mich geirrt. Leider.

Während die Welt wegen des Coronavirus in Panik verfällt und der gesunde Menschenverstand flöten zu gehen scheint, prügeln an der EU-Aussengrenze in Griechenland rechte Bürgerwehren auf Kriegsflüchtlinge und Helfer ein und begiessen Schiffe mit Benzin. Gut, kann ich mich erfolglos beruhigen. Das ist weit weg. Aber als ich vor einigen Jahren meinen Konfirmandinnen und Konfirmanden erzählt hatte, dass ich jetzt einen Schweizer Pass habe, sagte eine Konfirmandin zu mir: „Ja. Du bist Schweizer. Wir sind Eidgenossen!“ Gut. So kann man denken, hab ich mir gedacht. Befremdet war ich trotzdem. Seitdem fallen mir auch die Autoaufkleber auf. In fetten Buchstaben prankt in Frakturschrift „Eidgenosse“ auf der Heckscheibe. Nun gut. Wer sonst nichts hat, auf das er stolz sein kann, mag sich so sein Auto verzieren. Aber bitte: Was ist aus dem „Haus der Freiheit“ geworden, das uns Gott gegründet und Wilhelm Tell beschworen hat?

Als ich Anfang der Woche durch Herisau fuhr, war direkt vor mir ein schwarzer Mercedes mit Innerrhoder Kennzeichen. Auf der Heckscheibe stand, ebenfalls in Frakturschrift, „Kraft durch Freude“ (2). Damit ist für mich eine Grenze überschritten. Langsam wird es sehr gefährlich. Dass die Therme in Vals 2012 diesen Slogan für Werbezwecke verwenden wollte, war in ihrer Wahrnehmung nur ein „Patzer“. Sie baten um Entschuldigung für den „bedauerlichen Fauxpas“.

Offensichtlich hat die Nazi-Propaganda nun auch die Menschen auf der Strasse erreicht. Einschlägige Wahlplakate haben den Nährboden gelegt. Was kommt als nächstes? „Arbeit mach frei“ (3) als Thema für ein parteipolitisches Jugendlager?

Wir sind kirchlicherseits in der Fastenzeit angekommen. Wir verzichten, um uns zu besinnen. Um zu uns zu kommen. Wer mit Kirche nix am Hut hat, mag doch bitte über Wilhelm Tell nachdenken und überlegen, wie wir das „Haus der Freiheit“ weiterbauen können.

Sonst geht es uns so wie dem deutschen Maler Max Liebermann, der am Abend der Machtübernahme Hitlers sagte: „Ick kann janich so viel fressen, wie ick kotzen möchte!“

Noch mal zur Erinnerung:

(1) Faschismus: Totalitäre politische Bewegung, die nach dem Führerprinzip aufgebaut ist und versucht, die Demokratie abzulösen. Sie teilt Menschen in „gute“ und „schlechte“ ein, je nach Nation oder Rasse. Berühmte faschistische Führer waren B. Mussolini in Italien und A. Hitler in Deutschland.

(2) „Kraft durch Freude“, KdF, war eine Organisation im Hitlerdeutschland, die für die Freizeitgestaltung der (arischen) Bevölkerung zuständig war.

(3) Zynische Inschrift über dem Tor des Konzentrationslagers Auschwitz.

Lars Syring

Pfarrer in Bühler