Reformierte Kirche Bühler

Mittwoch, 31.10.2018

Neulich am Telefon

Michi fährt gern Auto. Er hat lange gespart, und nun hat er genau das Modell, das er immer haben wollte. In Metallicschwarz. Wenn er Zeit hat, macht er eine kleine Ausfahrt. Einfach nur so zum Spass. Ohne spezielles Ziel. Manchmal hoch zur Schwägalp. Und dann auf der anderen Seite wieder herunter. Er geniesst es, die Kurven auszufahren. Im richtigen Moment abzubremsen, das Lenkrad herum zu legen, schalten, wieder Gas geben. Kann es etwas schöneres geben? Für Michi nicht. Manchmal träumt er, er wäre James Bond, könnte fahren wie er.

Doch diesmal ist es dumm gelaufen. Michi ist zu schnell gefahren und wurde geblitzt. Mit sowas muss sich Bond nie rumärgern. Aber Michi hat es bemerkt, hat das Blitzlicht gesehen. Er ärgert sich. Über sich. Weil er den Blitzer nicht rechtzeitig gesehen hat. Aber auch über die Polizei. Ist doch gemein. Warum verstecken sie den Blitzer auch so gut? Da hat Michi ja gar keine Chance mehr. Der Sonntag ist kaputt.

Wie fühlt sich Michi? Klar. Er ist schneller gefahren als erlaubt. Er hat gegen das Gesetz verstossen. Aber fühlt er sich schuldig? Das wäre ja die adäquate Reaktion. Er hat Schuld auf sich geladen. Aber schuldig, schuldig fühlt er sich nicht. Warum auch? Ist ja nur eine Bagatelle. Die paar Franken tun zwar weh. Aber mehr auch nicht. Nein. Er spürt in sich keine Schuld. Er ärgert sich, weil er versagt hat. Er hat versagt! Michi hat den Blitzer nicht rechtzeitig gesehen. Er hat nicht schnell genug abbremsen können. Er hat versagt, weil er sich hat erwischen lassen. Sicher. Gesetze sind gut. Aber eigentlich doch nur für die anderen. Er selbst braucht doch keine Gesetze. Er lebt jenseits von gut und böse. Es reicht, wenn die anderen sich an die Gesetze halten. Er selbst hat das nicht nötig. Er macht doch alles richtig. Und er meint es nicht mal böse.

Nun ist er gekränkt. Nach dem Bussgeldbescheid ist klar, die Zeit ohne Auto wird länger dauern als ihm lieb ist. Offenbar doch keine Bagatelle. Er liest den Brief wieder und wieder. Und je länger er ihn liest, desto schlechter geht es ihm. Er schämt sich. Die anfängliche „Bagatelle“ wird zu einer Infragestellung seiner ganzen Person. Er hat versagt. „Ich werde nie so fahren können wie Bond“, denkt er. Es spürt, wie sich ihm der Magen zuschnürrt und er immer schlechter Luft bekommt. Alles wird eng.

Da klingelt das Telefon. Sei Göttibueb ist dran. „Du, Götti“, sagt er. „Ich bin auf der Suche nach einem Konfirmationsspruch. Ich habe einen gefunden. Kann ich dir den mal vorlesen?“ „Ja, klar, schiess los!“ Der Göttibueb beginnt: „Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“ Nach einer Pause fragt er nach: „Wie findest du den?“ „Das ist ein schöner Spruch“, sagt Michi und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Das ist ein schöner Spruch. Nimm den. Der ist gut.“ „Wollen wir Sonntag mal zusammen in den Gottesdienst gehen?“, fragt der Göttibueb. „Es ist Reformationssonntag.“ „Lass uns das machen“, sagt Michi. „Vielleicht sagt der Pfarrer den Spruch ja wieder. So ein leuchtendes Angesicht, das kann ich jetzt gut gebrauchen.“ Nachdem er aufgelegt hat, denkt es in Michi weiter. „Gnade“, denkt er. „Gnade. Vielleicht kann ich lernen, auch mit mir selbst gnädig zu sein. Vielleicht…“

Lars Syring

Pfarrer in Bühler