Reformierte Kirche Bühler

Dienstag, 05.03.2019

Wir haben die Wahl

Wie wir die Bibel verstehen, hängt massgeblich von der Brille ab, mit der wir sie lesen. Unser Vorverständnis prägt das, was wir entdecken. Es geht nicht anders. Wir können die Texte nicht mehr wie zum ersten Mal lesen. Um in den alten Texten Neues zu entdecken, versuche ich regelmässig die Brille zu wechseln.

Meine aktuelle Brille: Ich stelle mir vor, Jesus erzählt seine Geschichten mit einem Augenzwinkern. Mit Schalk im Nacken. Jesus, ein liebevoller und lebensfroher Mensch. Dabei komme ich zu erstaunlichen Entdeckungen.

Das Reich Gottes

Nehmen wir den Begriff vom Reich Gottes. Als ich anfing, als Christ zu leben, dachte ich, dass das Reich Gott erst nach dem Tod auf mich wartet. Jesus war in meinen Augen ein strenger Mann, der richtigen Glauben und ethisch korrektes Verhalten von mir forderte. Da gab es wenig Raum für Lebensfreude oder Humor. Geschweige denn für Liebe. Ich musste Jesus erst beweisen, dass ich würdig bin. Glaube war eine ernste Sache. Erst wenn ich all das tat, was er von mir wollte, konnte ich auf seine Liebe hoffen. Die Angst, nicht ins Reich Gottes zu kommen, war da. Bei mir zwar nicht bedrohlich. Aber ich kenne genug Menschen, die an ihrer Erwählung gezweifelt haben. Und ich machte mir Sorgen um meine Eltern. Ob die auch gerettet werden würden?

Inzwischen sehe ich das mit dem Reich Gottes anders. Lukas berichtet einmal in seinen Geschichten über Jesus, dass die Pharisäer ihn fragen, wann denn das Reich Gottes käme. „Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes?, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht mit äußeren Zeichen; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier!, oder: Da! Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch.“ (Lk 17, 20f)

Offenbar warteten die Pharisäer auf etwas Besonderes. Und sie konnten es nicht mehr abwarten. Es wurde Zeit. Aber woran würden sie erkennen, dass das Reich Gottes kommt? Ich stelle mir vor: Die Pharisäer warteten so gespannt auf das Reich Gottes, wie ein kleines Kind an Weihnachten auf die Bescherung. Sie erwarteten Grosses. Sehr Grosses. Und etwas sehr sehr Schönes.

Doch Jesus gibt ihnen eine verblüffende Antwort. Er sagt: „Ihr braucht nicht mehr zu warten. Das Reich Gottes ist längst da. Hier und Jetzt. In jedem Augenblick.“

Und sogar noch mehr. Jesus sagt: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch. In jedem Menschen ist das Reich Gottes schon da.“

Was suchen wir dann noch? Offensichtlich liegt das Problem darin, dass wir das Reich Gottes falsch verortet haben. So wie die Pharisäer: In der der Zukunft. So wie ich damals: erst nach dem Tod. Deshalb konnten die Pharisäer, deshalb können wir es nicht so einfach wahrnehmen. Manchmal versperrt uns das Suchen das Finden. Da stehen wir irgendwo und suchen, denken nach, wo wir die Schere das letzte Mal gesehen haben. Und dabei liegt die Schere direkt vor uns. Aber dass sehen wir erst, nachdem wir jemanden gebeten haben, uns beim Finden zu helfen. Oder wir suchen so, wie ein Fisch das Wasser sucht. Er bemerkt nicht, dass er längst davon umgeben ist. Sogar selbst zum grössten Teil aus Wasser besteht. Dass es das Wasser ist, das ihn nährt.

Eine Frage des Sehens?

Ist das Reich Gottes eine Frage des Sehens? Geht es darum, anders zu sehen?

Mir gefallen die „Vexierbilder“. Das bekannste finden Sie hier abgedruckt. Je nachdem, wie wir schauen, erkennen wir eine alte Frau oder eine junge Frau.

Unser Gehirn kann dieselbe Anordnung von Strichen ganz unterschiedlich zusammen setzen, je nachdem, was wir gewohnt sind zu sehen. Je nachdem, was wir sehen wollen. Unser Gehirn greift auf unsere Erfahrungen zurück. Und auch auf unsere Erwartungen. Haben wir eher prägende Erfahrungen mit alten oder jungen Frauen gesammelt? Wie alt sind wir selbst? Und: Interessieren uns eher die alten oder die jungen Frauen?

Als ich das Bild vor vielen Jahren zum ersten Mal gesehen habe, fiel es mir schwer, die andere Frau zu entdecken. Doch das übt sich. Plötzlich, manchmal auch erst mit der Hilfe von anderen, entdecken wir auch die andere Frau. Wichtig dabei ist, dass beide Bilder gleichberechtigt sind. Das eine ist nicht realer oder wichtiger als das andere. Es ist vielmehr eine Frage unserer Aufmerksamkeit, was wir wahrnehmen können oder wahrnehmen wollen.

Und so ist es, wenn ich Jesus richtig verstanden habe, auch mit dem Reich Gottes.

Es ist längstens da. Als reale Möglichkeit. Und es ist letztlich nur eine Frage des Umspringens unseres Blickes. Natürlich gibt es auch Unterschiede. Dieses optische Umkippen ist ein gewolltes. Eine Spielerei. Und das geistliche Umkippen ist sehr viel existentieller.

Existentieller deshalb, weil es um die entscheidende Frage geht, wie wir unser Leben verstehen? Wie deuten wir unser Leben? Ist unser Leben die Hölle? Oder der Himmel? Die Entscheidung liegt bei uns, ob wir glücklich oder traurig sein wollen. Denn die Gefühle folgen unseren Gedanken. Nicht andersherum (mit Ausnahme von akuten Lebensbedrohungen natürlich.) Die Entscheidung liegt bei uns, ob wir das Reich Gottes wahrnehmen oder nicht. Ob wir bereit sind es zu betreten oder nicht. Das beginnt zunächste ganz klein wie ein Senfkorn. Und dann wächst es und wird ein grosser Baum.

Die Wirklichkeit ist weder gut noch schlecht

Für dieses Umkippen des Blickes braucht es nicht viel. Und die gleiche Lebenssituation eröffnet eine ganz andere Perspektive. Die Wirklichkeit ist weder gut noch schlecht. Es ist mehr die Frage, wie wir sie sehen wollen. Ob etwas gut oder schlecht ist, das ist unsere Bewertung. Und diese Bewertung geschieht nur in unserem Kopf.

In der Meditation geht es deshalb zunächst darum, einfach nur wahr zu nehmen, was da ist. Das, was da in uns ist. Welche Gedanken uns durch den Kopf schiessen. Und in uns denkt es sowieso viel zu viel. Wir gucken das neutral an und nehmen wahr. Dann lassen wir die Gedanken wieder ziehen, ohne sie zu bewerten und ohne in Panik zu verfallen. Und wir bemerken nach einiger Übung, wie sehr das befreit. Wenn wir aus dem Zwang zum Bewerten aussteigen.

Für denjenigen, der diesen Perspektivwechsel vollzogen hat, ist die Welt immer gut. Nicht die äussere Welt muss sich ändern, damit ich glücklich werde. Das Glücklichsein ist eine Frage der inneren Verwandlung, der Art, wie wir die Welt sehen. Vielleicht auch der Frage, ob wir überhaupt glücklich sein wollen.

Und mit diesem inneren Vorurteil, dass das Leben schön ist, schmerzt es um so mehr, wenn ich sehe, wie Leben leidet. Menschen, Tiere, Natur. Und dann spielt auch wieder das ethische und solidarische Verhalten. Dann wird Liebe konkret. Aber das geschieht jetzt aus einer ganz anderen Motivation heraus. Es geht nicht mehr darum, dass ich vor Gott gut dastehen will. Ich handle jetzt anders, weil ich es aus einer inneren Notwendigkeit heraus muss! Weil ich weiss, dass alles mit allem zusammen hängt. Und dass jeder Schmerz, der anderen zugefügt wird, letztlich auch mir weh tut. Dass alles Leiden der Kreatur auch mein Leiden ist.

Das Reich Gottes ist jetzt da. Es wächst in und unter uns. Es breitet sich aus. Das Leben ist schön. Trotz allem. Wir haben die Wahl. Ich entscheide mich für die Liebe.

Lars Syring